Sibylle Reuter wurde in Sofia geboren und kam mit neunzehn nach Österreich. Sie spricht sechs Sprachen, studierte Germanistik, arbeitete als Dolmetscherin und lebte in Bologna, Shanghai und Valencia. Heute schreibt sie als freie Autorin über Heimat, kulturelle Zugehörigkeit und die besondere Magie von Orten, die uns prägen.
Autorin
Auszeichnungen
- 2025 Literaturpreis SCHREIBEREI der Steiermärkischen Sparkasse
- 2024 Shortlist Building Bridges Schreibwettbewerb von Amazon Publishing
- 2023 Shortlist Field Trip Award
- 2022 exil-Literaturpreis
- 2021 Neustart Kultur Schreib-Stipendium
Veröffentlichungen (Auswahl)
- „Luft“, in „Von Neugierde, Mut und Reiselust: Ehrliche Reisestories“, Reisedepeschen Verlag, 2024
- „Richtungsweisend, Wirklich.“, in „Gemeinwohl-Ökonomie in der Praxis: 24 wahre Geschichten vom Tun und vom Lassen“ Hrsg.: Hoffmann, Walchner und Dudek, oekom verlag, Februar 2021
Sibylle Reuter im Interview
Was war das Mutigste, was du je getan hast – ohne zu wissen, wie es ausgehen würde?
Mit dreißig habe ich meine vier Jobs in Graz gekündigt und bin nach Shanghai gegangen. Innerhalb weniger Monate haben wir unsere Wohnung aufgegeben, Haustiere und Möbel bei den Schwiegereltern untergebracht und geheiratet. In meinem Visum stand als Zweck der Reise: “Begleitperson”. Selten habe ich mich so entkernt gefühlt. Aber genau dieser Schritt hat mich gelehrt, dass man alles hinter sich lassen kann, um Neues zu beginnen. Heute prägt dieser Mut zum Aufbruch mein Schreiben.
Weiterlesen
Dein Buch heißt „Zerbrichmeinnicht“. Was genau darf nicht zerbrechen?
Das Herz, der Wille, der Glaube der Protagonistin. “Zerbrichmeinnicht” erzählt von Momenten, in denen sogar die Hoffnung zerbricht. Trotzdem bleibt immer etwas bestehen. Auch die Textform spiegelt das wider: Sie ist stellenweise fragmentarisch und in Stücke zerlegt. Brüche sind für mich nichts Endgültiges, sondern eröffnen Räume für Erkenntnis und Veränderung.
Gibt es eine Szene oder Figur in „Zerbrichmeinnicht“, die besonders autobiografisch geprägt ist?
Ja, viele Szenen haben einen autobiografischen Kern. So habe ich mich beispielsweise tatsächlich an einer Ballettschule beworben. Dieser Traum vom Tanzen taucht im Roman wieder auf. Auch meine ersten Jahre in Bulgarien spiegeln sich darin wider: Im Kindergarten habe ich tagsüber „Deutschsein gespielt“, während mir die bulgarische Sibylle auf dem Heimweg jedes Mal wieder nachlief.
Welche literarischen Vorbilder haben dich auf dem Weg zu deinem Debütroman am meisten inspiriert?
Es gibt einige Autor:innen, die mich geprägt haben. In „Vom Ende der Einsamkeit“ bewundere ich bei Benedict Wells die Verbindung von existenzieller Tiefe und erzählerischer Leichtigkeit – viele seiner Sätze klingen lange nach. Lorenzo Marone beeindruckt mich mit der Klarheit seiner kurzen Sätze und Arno Geiger mit der Zartheit seiner Sprache. Von Thomas Melle habe ich gelernt, wie radikal offen Literatur sein kann. Sergej Dowlatow schätze ich für seine feine Selbstironie.
Du hast als Dolmetscherin für Asylbewerber:innen gearbeitet. Wie hat das deinen Blick auf das Thema Heimat verändert?
Heimat ist flüchtig. Grenzen verschieben sich oder verschwinden und plötzlich sind wir auf uns allein gestellt. Wir können Grenzen überwinden oder neue errichten – mit Würde und Stolz auf unsere Wurzeln. Doch letztlich bleibt Heimat immer relativ: Drinnen sind wir Inländer, draußen Ausländer. Manchmal sind wir willkommen, manchmal werden wir skeptisch beäugt. Das tut weh. Denn am Ende sind wir immer nur wir selbst. Der Rest ist Framing.
Du bist in Bulgarien aufgewachsen, hast in Österreich gelebt und sprichst sechs Sprachen. In welcher Sprache fühlst du dich am meisten wie du selbst?
In allen und in keiner. Jede Sprache trägt ein Stück von mir – eine andere Facette, eine andere Erinnerung. Zusammen ergeben sie ein Ganzes, aber keine einzelne Sprache fühlt sich je vollkommen nach mir an.
In deinem Buch geht es um Zugehörigkeit. Glaubst du, dass man irgendwann wirklich irgendwo ganz ankommen kann – oder bleibt ein Teil von einem immer fremd?
Ja, man kann ankommen. Die Frage ist nur, wie lange. Und ob Ankommen wirklich ein Ziel sein sollte. Inzwischen glaube ich, dass wahre Zugehörigkeit nichts anderes ist als die innere Treue zu sich selbst. Und weil das Selbst ständig in Bewegung ist, ist Zugehörigkeit vielleicht auch nur ein Prozess und keine Destination.
Was war der schwierigste Moment in deinem Leben, der dich bis heute geprägt hat?
Der Tod meiner Mutter.
Gibt es Momente beim Schreiben, in denen du dich selbst überraschst oder neu entdeckst?
Ja, ständig. Oft habe ich das Gefühl, dass ich schreibe, um unbewusste Anteile von mir selbst zu entdecken. Es gibt Momente, in denen ein Satz plötzlich auf dem Papier steht und mich überrascht, als hätte nicht ich ihn geschrieben, sondern er mich gefunden.
Gab es einen Moment, in dem du gedacht hast: Jetzt weiß ich, wer ich wirklich bin?
Diese Momente gibt es immer wieder. Ich liebe sie. Sie dauern selten länger als ein paar Atemzüge. Aber das ist gut so, denn wäre das Leben nicht langweilig, wenn man das schon über sich wüsste?